Sozialdemokraten wollen die Schwachen stärken, und die SPD will eine progressive Fortschrittspartei sein – das liegt in ihrer kollektiven DNA. Darum wird sich die Partei mit aller Macht den Jungen zuwenden: den Kindern und Jugendlichen, Berufsanfängern und Familiengründern. Denn sie sind die Schwachen unserer Zeit, und von ihren Lebenschancen hängt die Zukunft unseres Landes ab.
Das nächste Jahr wird ein gutes Jahr. Es wird das Jahr der Freundschaftsanfrage der SPD an die junge Generation. Es wird das Jahr, in dem die SPD einmal andere Fragen stellt. Sie wird fragen, warum die Wahlbeteiligung der jungen Erwachsenen ohne Abitur seit den achtziger Jahren so besorgniserregend gesunken ist, während die Wahlbeteiligung der jungen Erwachsenen mit Abitur so hoch liegt wie eh und je. Sie wird sich fragen, wie es dazu kommen konnte, dass ausgerechnet die SPD die Bildungsverlierer in der jungen Generation nicht mehr anspricht; wie eine neue Unterschicht entstehen konnte, mit Menschen, die von Kindesbeinen an das Gefühl vermittelt bekommen haben, dass sich ohnehin niemand um sie schert.
Die SPD wird nicht mehr die Alten als ihre wichtigste Zielgruppe ausmachen. Denn als eine Partei der Schwachen muss sie in einer älter werdenden Gesellschaft die Partei der Jugend sein. Heute sind die jungen Menschen die Schwachen – weil sie zu wenige sind, um sich durchzusetzen, und weil es materiell um sie schlechter bestellt ist als um die heutigen Alten, die noch in Zeiten sicherer Renten und erklecklicher Zinsen aufgewachsen sind. Altersarmut gibt es derzeit kaum: Nur 2,6 Prozent der Rentner sind auf die staatliche Grundsicherung angewiesen. Aber 18,2 Prozent der Kinder müssen von Sozialhilfe leben – und es sind diese Kinder, die die Solidarität der Gesellschaft am meisten benötigen.
Die SPD riskiert damit einiges. Denn die vielbeschworene Mitte der Gesellschaft sind nicht die Jungen, sondern die Babyboomer, die jetzt in Rente gehen. Sie sind zur wichtigsten Zielgruppe der großen Parteien geworden. Mehr als ein Drittel der Wahlberechtigten ist über sechzig Jahre alt. Bei der letzten Bundestagswahl 2013 hatte die junge Generation so wenig Gewicht wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Hätte eine Partei sämtliche Wähler unter 21 Jahren mobilisiert, hätte es nicht einmal für die Fünf-Prozent-Hürde gereicht. Hätte sie dagegen alle Wähler über 70 auf ihre Seite gebracht, wäre ihr bereits mehr als ein Fünftel aller Stimmen sicher gewesen. Noch grauhaariger als die Wählerschaft sind die Parteien selbst, in denen die Lebenswelt der Jungen kaum mehr vorkommt. Die Hälfte der SPD-Mitglieder ist über 60 Jahre alt, keine drei Prozent sind jünger als 25.
Deswegen rät Harald Schmidt in seinen launigen „Handreichungen für die Politkarriere“ im Focus den Parteien, wenn sie die absolute Mehrheit erreichen wollen: „Rentner, Rentner, Rentner. Größte Wählergruppe, finanzstark, staatstreu. Vergessen Sie moderne junge Frauen in Großstädten. Überschaubare Anzahl, wählen sowieso Grün.“
Rente? Wird kein SPD-Thema sein
Aber genau auf diese modernen jungen Frauen (und Männer) wird die SPD setzen. Und dieses Risiko zahlt sich aus. Denn wenn man junge Menschen von der Sozialdemokratie begeistert, ist die Chance, dass sie im Laufe ihres Lebens immer wieder die SPD wählen, viel größer. Der Jugend gehört die Zukunft, oder etwa nicht? Und eine Partei, die eine Partei der Zukunft sein will, muss eine Partei der Jugend sein. So werden die zukünftigen Mehrheiten gemacht: mit Mut und Innovationskraft, und nicht mit einer Politik für die Babyboomer, die keine Experimente wollen, sondern ihre Ruhe.
Nein, die Rente wird endlich nicht mehr das Wahlkampfthema sein. Das war bei der letzten Wahl schon so, und bei der vorletzten, und auch bei der Wahl davor. Die SPD wird daher alle Talkshows zum Thema Rente boykottieren. Diesmal gibt es keine gesetzliche Rentengarantie, sondern eine Zukunftsgarantie; keine Rentenpakete, sondern Kinderpakete.
Die SPD wird andere Themen setzen: die Bekämpfung der Kinderarmut und wirksame Hilfen für arme Familien; Luxus-Kitas und Elite-Schulen entgeltfrei und für alle statt nur für die oberen Zehntausend; anständige Löhne und höhere Qualifizierung für alle, die sich um andere Menschen kümmern: Altenpflegerinnen und Altenpfleger, Kindererzieherinnen und Kindererzieher, Krankenschwestern und Krankenpfleger.
Weil das Grundgesetz sagt, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und vom Volke durch Wahlen ausgeübt wird, wird die SPD einen Antrag einbringen, dass jeder junge Mensch ebenfalls wählen darf, sobald er oder sie das möchte. Denn die 13 Millionen Menschen, die derzeit pauschal vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, nur weil sie unter 18 Jahre alt sind, gehören doch auch zum Volk. Das aktuelle Zwei-Klassen-Wahlrecht wird in die Geschichtsbücher verbannt.
Die Jugend wird überall beteiligt, wo es um ihre Interessen und um ihre Zukunft geht: in den Parteien, Gewerkschaften, Beiräten und Kommissionen – an jedem Verhandlungstisch. Die SPD wird ihre alten Zöpfe abschneiden. Das Strategiepapier der Berliner SPD, in dem die Devise ausgegeben wurde: „Lieber altbacken gewinnen als modern verlieren“, wird als altbacken entsorgt und getrost dem Recyclingprozess zugeführt. Ebenso ergeht es der Programmschrift „Starke Ideen für Deutschland 2025“ von Sigmar Gabriel, weil die Partei festgestellt hat, dass es mehr Langeweile enthält als starke Ideen, weil man sich darin mehr um Sicherheit kümmern wollte als um Gerechtigkeit, weil die SPD so zu einer Vorstadtpartei mutierte statt zur progressiven Fortschrittspartei, die sie doch eigentlich sein möchte.
Die SPD wird mutig sein. Zum Beispiel wird sie einen Kanzlerkandidaten aufstellen. Ja, wir leben in seltsamen Zeiten, dass man so etwas betonen muss, denn einige sind da ja anderer Meinung. Vielleicht wird es sogar eine Kandidatin. Überhaupt gehen viele heutige Führungspersonen in den Ruhestand, und die heute-show wird anschließend lästern müssen, dass die Hälfte der Ex-SPD-Vorstände nun ehrenamtlich als Lobbyisten für den Kinderschutzbund, den Verein „Pro Demokratie“ und die Naturfreunde arbeitet.
Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen? Das ist so achtziger. Die SPD hat wieder eine Vision und gibt sich nicht mehr mit Klein-Klein zufrieden. Sie fordert ein 100-Milliarden-Euro-Zukunftspaket für Kitas, Bildung, Digitalisierung und Klimaschutz, finanziert aus Kapitalsteuern auf Finanztransaktionen, Zinserträge und millionenschwere Erbschaften, und das wird das erste sein, was sie nach der gewonnenen Wahl in die Tat umsetzt.
Keine Angst mehr vor der Digitalisierung
Weil die SPD sich Visionen erlaubt und das Diskutieren liebt, setzt sie im Wahlkampf ein „Forum Grundeinkommen“ ein, um die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens mit Fürsprecherinnen und Skeptikern, Verteidigern und Gegnern zu diskutieren. Sie tut das nicht, weil sie von dieser Idee überzeugt wäre, sondern weil so viele Menschen aus allen Schichten und Lebenslagen das Grundeinkommen für eine faszinierende und richtige Sache halten und weil eine Volkspartei sich von dieser Diskussion nicht auf ewig abkapseln kann, nur weil sie schon immer dagegen war. Zumal es den Befürwortern des Grundeinkommens erklärungsgemäß um soziale Gerechtigkeit geht – und wer, wenn nicht die Partei der sozialen Gerechtigkeit, sollte diesen Diskurs sonst für sich nutzen?
Die SPD lässt ihre Angst vor der Digitalisierung hinter sich und bringt den nötigen Mut für den digitalen Wandel auf, weil sie erkennt, dass sonst ausgerechnet die Konservativen dieses Zukunftsthema besetzen (man denke nur an die Open-Data-Initiative des einstigen Maut-Ministers Alexander Dobrindt oder an den digitalen Bildungspakt von Johanna Wanka). Der vorwärts widmet sich daher in einer Ausgabe auf mehr als zwanzig Seiten nur den Chancen der Digitalisierung für Wertschöpfung, Nachhaltigkeit und Inklusion – schon alleine, um seine letzte Digitalisierungs-Ausgabe wettzumachen, die auf zwanzig Seiten nur die Risiken breit getreten hat. Die SPD richtet sich auch einen Netzpolitischen Beirat ein, der vielleicht einen kreativeren Namen trägt, und nimmt den Rat ihrer Digital-Berater diesmal sogar ernst. Als ersten Schritt führen die Sozialdemokraten in allen deutschen Städten einschließlich Berlin die Möglichkeit ein, seine Wohnung online umzumelden, und sie lassen alle ÖPNV-Busse mit freiem WLAN ausrüsten.
Innovativer und agiler als Tesla
Die SPD vollzieht einen Kurswechsel zur Bürgerrechtspartei, und zwar auch im digitalen Raum. Sie tritt ein gegen Vorratsdatenspeicherung und massenhafte Geheimdienstüberwachung, und sie unternimmt etwas gegen den Hass im Netz, indem sie Beleidigungen und Volksverhetzung mit aller Konsequenz strafrechtlich verfolgen lässt. Im selben Atemzug schafft sie die Rundfunkgebühren ab, weil sie weiß, dass Menschen dieses Überbleibsel aus der Vergangenheit nicht mehr zu leisten bereit sind, und weil nichts dagegen spricht, die öffentlich-rechtlichen Medien aus öffentlichen Geldern zu finanzieren.
Die SPD geriert sich nicht mehr als Anwältin alter Industrien, nur weil sie alt sind – diesen Job hat ja nun Christian Lindner übernommen, der den Verbrennungsmotor sarkasmusfrei für ein schützenswertes Kulturgut hält. Stattdessen ist die SPD innovativer und agiler als Tesla und startet ein 100 000-Ladesäulen-Programm für Elektroautos in Analogie zum erfolgreichen 100 000-Solardächer-Programm der ersten rot-grünen Bundesregierung. Die Partei löst damit das Infrastrukturproblem der Elektromobilität und schützt die Arbeitsplätze der Automobilindustrie in Wolfsburg, Dresden, München und anderswo.
Im Willy-Brandt-Haus bringt die SPD ein Wochenende lang junge Leute zusammen, bei Bier, Mate und Pizza, um die Partei zu hacken und neue Beteiligungsformate zu erdenken – wie zum Beispiel Online-Petitionen, die es zwar im Bundestag gibt, aber nicht bei der SPD (wo noch das Fax regiert).
Bei so viel Mut und neuer Kraft gewinnt die SPD aber nicht nur die Sympathie und Stimmen der Jugend, sondern überraschenderweise auch der Alten. Denn die SPD kann zehntausende junge Menschen begeistern, ihre Großeltern anzurufen und ihnen zu erklären, warum sie die SPD für die richtige Partei halten – wie in Irland bei der „ring your Granny“-Kampagne, bei der junge Leute ihre Großeltern überzeugten, beim Referendum für die „Ehe für alle“ zu stimmen. Auf diese Weise tut die SPD sogar noch etwas für den Dialog der Generationen. Aber vielleicht ist das alles ja nur ein Traum.
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