Das Referendum zeigt: Alte-Säcke-Politik diktiert die Agenda. Wir Jungen müssen uns organisieren. Der Hashtag-Aktivismus kann nur der Anfang sein. Ein Aufruf auf ZEIT ONLINE
In der Abstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der EU haben die Alten der jungen Generation ihre Meinung diktiert. Je älter ein Brite war, desto wahrscheinlicher stimmte er für Brexit. Umfragen von YouGov zufolge votierten 75% der unter-25-Jährigen für den Verbleib in der EU – in krassem Gegensatz zu den Alten über 65, die mehrheitlich für den Austritt stimmten. In den Wahlbezirken mit den meisten Rentnern war auch der Anteil der EU-Gegner am höchsten.
Die gute Nachricht: Die junge Generation ist von Europa überzeugt – auch in ihrer institutionalisierten Ausprägung, der Europäischen Union, die sich ansonsten oft schwertut, die Menschen für sich zu gewinnen. Und das, obwohl der Gründungsmythos der EU, die Sicherung des Friedens zwischen den Nachbarstaaten nämlich, ihnen als Selbstverständlichkeit erscheinen muss.
Die schlechte Nachricht: Es ist egal, was die Jungen denken. Sie sind eine Minderheit, die politisch irrelevant ist. Die Alten sind mehr, sie haben Zeit, Geld und Netzwerke, sie sitzen an den Hebeln der Macht. Ihre Stimme zählt. Die Gestrigen sind viele und stimmen die Zukunft der Wenigen nieder. Zu wenige haben auf ihre Kinder und Enkel gehört. Sie haben uns das Recht genommen, in Europa zu leben und zu arbeiten; das Recht verweigert, an einem gemeinsamen Europa zu bauen; kurz: ihnen Chancen und Visionen geraubt. Die Alten haben uns unser Europa geraubt.
Eine antike griechische Lehre besagt: Eine Gesellschaft wird stark, wenn die Alten die Bäume pflanzen, in deren Schatten sie niemals sitzen werden.
Heute fällen die Alten die Bäume, in deren Schatten die Jungen sitzen.
Alte-Säcke-Politik
„ALTE LEUTE RAUS AUS EUROPA!!!“, proklamierte Jan Böhmermann gewohnt undiplomatisch. Aber natürlich können und wollen wir niemanden verjagen, und Konflikte zwischen Alt und Jung gibt es, seit es Menschen gibt. Das historische Unikum aber ist: Heute sind die Alten so viele wie nie zuvor. In den westlichen Ländern ist ungefähr jeder dritte Wähler schon jetzt älter als 60 und in einer Demokratie übersetzt sich Masse in Macht. Wenn das Wahlvolk älter wird, dann geht das an der Politik nicht spurlos vorüber.
Brexit ist nicht der erste Fall der Alte-Säcke-Politik. Auch bei anderen Fragen gibt es handfeste Wertekonflikte zwischen den Generationen, ob bei Ehe für alle, Islam, Flüchtlingen und anderen Fragen, wo Werte und Weltanschauungen zur Verhandlung stehen. Eine ganze Reihe an Volksabstimmungen, beispielsweise über öffentliche Kinderbetreuung in der Schweiz oder über die Abschaffung der Wehrpflicht in Österreich, scheiterte am Veto der Alten. Immer wieder drückt die ältere Generation den Jüngeren ihre Vorstellung davon auf, wie eine Gesellschaft zu sein hat.
In einer Referendumsrepublik der Greise werden die Interessen der Jungen leicht untergebuttert. Immer stießen Welten aufeinander und immer waren die Jungen die Verlierer.
Es reicht nicht, dass die Jugend ohnehin schon eine Minderheit war. Vielen Millionen jungen Menschen hat man das Stimmrecht sogar pauschal entzogen, weil sie unter 18 Jahre alt waren. Hätten die 17-Jährigen genauso wählen dürfen wie die 71-Jährigen, hätte das Ergebnis anders ausgesehen. Aber ihre Stimme war nichts wert.
Vielleicht ist es auch unsere eigene Schuld. Wir Jungen waren in unserer Filterblase gefangen. Auf Facebook stellten wir unsere Profilbilder auf britische Flaggen mit Herzchen und posteten Selfies, in denen wir „We would miss you“-Schilder hochhielten. Für uns war diese Gemeinschaft ohne Grenzbäume und Wechselstuben so selbstverständlich, dass wir gar nicht daran glauben konnten, dass jemand dagegen sein könnte. In unserer Facebook-Timeline tauchten diese Menschen einfach nicht auf. Als wir dann noch Unterschriften sammelten und Herzluftballons zur britischen Botschaft trugen, waren wir überzeugt, so viel Gutes getan zu haben, dass es schon reichen würde.
Gemeinsam kämpfen lernen
Vielleicht liegt es daran, dass wir nie richtig gelernt haben, für eine gemeinsame Sache auch gemeinsam zu kämpfen. Vielleicht haben wir zu sehr geglaubt, dass Wählen, Abstimmen, das Sichengagieren sich ohnehin nicht lohnt, weil man doch am Ende nichts bewegen kann. Denn warum sollte sich die Politik nach uns richten, wenn wir ohnehin zu wenige sind, als dass sie unsere Stimme bräuchten?
Vor einem Jahr schrieb ich auf ZEIT ONLINE, dass es Zeit ist für einen Aufstand der Jungen. Ich glaubte, dass dieser Aufstand schon näher ist, als es scheint – weil wir uns facettenreich engagieren, in einem riesigen Ökosystem aus Projekten und Initiativen, ganz anders als die Alten mit ihren klotzigen Großorganisationen. Daher ist unser Engagement weniger greifbar.
Wenn wir aus Brexit etwas gelernt haben, dann: 75% der jungen Generation sind zwar für Europa, und das ist eine klare Botschaft, aber weil die junge Generation insgesamt zu klein ist, versiegt diese Botschaft im Nichts. Wir sind zu wenige und daher müssen wir lauter sein als die Alten, die schwerhörig geworden sind.
Der Hashtag-Aktivismus kann nur der Anfang sein. Wir müssen uns besser organisieren. Wir müssen uns zusammenschließen und uns nicht in tausend Splittergruppen spalten. Wir brauchen eine neue Jugendbewegung, die für Europa kämpft – für alles Gute, das die EU für uns getan hat, aber noch mehr für die europäische Idee. Denn auf die Alten, die in ihrer eigenen Jugend einmal Grenzbäume abgesägt haben, können wir uns leider nicht mehr verlassen.
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