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AutorenbildWolfgang Gründinger

Hätte, könnte, sollte: Warum wir gut sein wollen, aber nicht gut handeln

Aktualisiert: 27. Sept.


The Eagle Creek wildfire burns as golfers play at the Beacon Rock Golf Course in North Bonneville, Washington, September 4. REUTERS/Kristi McCluer

The Eagle Creek wildfire burns as golfers play at the Beacon Rock Golf Course in North Bonneville, Washington, September 4. REUTERS/Kristi McCluer



Die bloße Tatsache, dass wir uns für gute Menschen halten und gut handeln wollen, führt nicht dazu, dass wir auch tatsächlich gut handeln. Sonst wären die schleppenden UN-Klimakonferenzen längst ein Erfolg. Warum ist das so? Eine Spurensuche.

Im Dezember 1970 führten zwei Psychologen an der Princeton University ein Experiment durch, das später berühmt werden sollte. Sie luden Theologiestudenten ein, unter dem Vorwand, es ginge ihnen um die theologische Ausbildung. Sie baten die Studenten, einen Vortrag über die Geschichte des “barmherzigen Samariters” vorzubereiten, ein biblisches Gleichnis über Nächstenliebe und Hilfe in Not.

Auf dem Weg zu ihrem Vortrag - und auch das war Teil der Versuchsanordnung - kollabierte ein offensichtlich hilfsbedürftiger Mann, er brach in sich zusammen, hustete, stöhnte. 63 Prozent der Studenten halfen.


Anschließend wiederholten sie das Experiment. Wieder baten sie eine Gruppe Theologie-Studenten um einen Vortrag zum Gleichnis des barmherzigen Samariters. Diesmal sagten sie den Studenten aber, sie seien schon spät dran und müssten sich beeilen. Auf dem Weg zu ihrem Vortrag brach ein Mann zusammen. Diesmal halfen nur 10 Prozent.

Gutes Verhalten ist nicht nur eine Frage des Wissens oder des persönlichen Charakters.

Gutes Verhalten ist vor allem eine Frage der äußeren Umstände. Auch diejenigen, die moralisch gut sind, handeln moralischer, wenn die äußeren Umstände es ihnen erlauben.

Das gilt auch für den Klimaschutz. Ob wir uns für umweltbewusst halten, hat nur bei sehr wenigen damit zu tun, ob wir uns tatsächlich auch so verhalten, wie wir wissen, dass wir uns eigentlich verhalten sollten.


Hätte, könnte, sollte


Diesen inneren Widerspruch nenne ich: Das “Könnte, hätte, sollte”-Paradox.

Wissen hat mit Handeln nicht viel zu tun. Denn in der Tat wissen wir alle ziemlich genau, was getan werden müsste, um die Zerstörung des Planeten aufzuhalten:


  • Wir alle wissen, dass Fliegen die schlimmste Art der Fortbewegung ist. Aber erst die Covid-Pandemie sorgte für einen Rückgang der Emissionen - und seitdem steigt der Flugverkehr wieder an.

  • Wir alle wissen, dass Massentierhaltung schlimm ist für die Tiere, aber auch für Natur, Klima, Gesundheit. 80% der Deutschen sagen, sie wollen bessere Bedingungen in der Tierhaltung. Trotzdem essen wir heute genauso viel Fleisch wie vor 20 Jahren. Bio-Fleisch kaufen weniger als 2%. Und vegetarische Wurstalternativen machen nur 3% aller tierischen Wurstwaren aus. So wenig also, dass es kaum einen Unterschied macht.

  • Wir alle wissen, dass die Stromproduktion aus Kohle und Gas das Klima zerstört. Aber nur 10% aller Hausbesitzer haben eine Solaranlage auf dem Dach.


Ausgerechnet diejenigen, die sich selbst als umweltbewusst einschätzen, verhalten sich - im Schnitt, weil sie oft höhere Einkommen haben - insgesamt sogar umweltschädlicher als ein armer Mensch, der zwar nicht so umweltbewusst ist, der sich aber so viel Konsum gar nicht leisten kann – weil er in einer kleineren Wohnung lebt, kein oder ein weniger großes Auto hat, und selten bis nie Kreuzfahrten oder long haul Flüge unternimmt.


Solange Klimaschutz eine Sache der individuellen Moral bleibt, kommen wir nicht weiter. Am Beispiel der Flugreisen erleben wir immer wieder, wie eine Moralpolizei die Instagram-Accounts von Klima-Aktivisten und grüner Politiker nach Beweisen durchsucht, um sie als Öko-Sünder zu entlarven - auch wenn niemand jemals gefordert hat, dass alle bitteschön ab sofort nur noch mit dem Tretboot in den Urlaub fahren und sich nur noch vegan und plastikfrei aus dem eigenen Garten von Fallobst ernähren dürfen.


Solche Argumente, die den Absender einer Forderung attackieren anstatt sich auf die Sache zu konzentrieren, nennt man “Whataboutism”, also die Frage: “Aber was ist mit DEINEM Flug oder DEINEM Spritverbrauch oder DEINEM Steak mit Regenwald-Sojafutter?”


Im Lateinischen sagt man dazu “tu quoque”, übersetzt: “du auch”. Wenn jeder aber dem anderen “Du auch!” vorwirft, steckt jede Debatte fest. Dann kreieren wir eine Debattenkultur, in der nur noch der moralisch makellose Mensch - den es nicht gibt - die Berechtigung hat, Klimaschutz fordern zu dürfen. Und damit wäre jede Debatte im Keim erstickt.


Wer ohne CO2-Ausstoß ist, der werfe den ersten Stein.



Kognitive Dissonanzen


Warum tun wir nicht das, von dem wir alle ziemlich genau wissen, was getan werden sollte? Warum drehen wir nicht durch, wenn unser Verhalten sich ständig in Widersprüche verwickelt?


In der Psychologie gibt es den Begriff der „kognitiven Dissonanzen“: Unser Gehirn versucht, den Widerspruch zwischen hehrer Selbst-Erwartung und profaner Wirklichkeit irgendwie in Einklang zu bringen. Das Phänomen kennen wir aus dem Alltag: „Eigentlich sollte ich joggen gehen, um fit zu bleiben – aber heute ist es zu kalt / zu heiß / könnte es regnen / bin ich zu müde / habe gerade keine Zeit.“


Oder: “Ja, ich weiß ja, dass Rauchen mir und den Menschen in meiner Umgebung schadet, aber der Mensch braucht ja ein Laster, das ist schließlich meine Freiheit, die ich mir von den woken Nichtraucher-Aktivisten nicht verbieten lasse, und haben nicht erst auf Spiegel Online 112,5 Lungenärzte geschrieben, dass Rauchen doch gar nicht so schlimm ist, und überhaupt: HELMUT SCHMIDT WURDE AUCH 96!”


Genauso reklamieren wir eine individuelle Ausnahmegenehmigung, wenn es um ökokorrektes Ver­halten geht: „Natürlich macht Autofahren das Klima kaputt und verbraucht Erdöl – aber ich brauche das Auto, weil es zu kalt zum Radfahren ist / es zu heiß zum Radfahren ist / es regnen könnte und ich daher nicht Fahrrad fahren will / mein Fahrrad einen Platten hat / ich zu spät dran bin und daher nicht Fahrrad fahren kann / heute (ausnahmsweise!) mal keine Lust auf Radfahren habe“.


Man sollte… tut es aber nicht. Ich könnte wissen, dass morgen die Welt untergeht, aber trotz­dem so weitermachen wie bisher. Nach der Devise: Es ist alles ganz schrecklich mit der Klimakatastrophe und der Abholzung der Regenwälder, aber dieses argentinische Steak ist so lecker, und jetzt ist es ja eh schon auf dem Teller, wäre doch schade drum.


Ausreden haben wir genug:

  • Die anderen sind noch schlimmer – und daher wiegen meine eigenen Sünden weniger schwer: „Ich sitze zwar auch im Flugzeug, und weiß, dass ich das Klima kaputt mache – aber die anderen hier denken noch nicht einmal darüber nach, dass sie den Planeten zerstören!“ (Das Gefühl kenne ich zum Beispiel von mir selbst ganz gut.)

  • Oder wie der taz-Leser, der sich über soziale Kälte empört, aber in der U-Bahn dem Straßenzeitungsverkäufer keinen Cent gibt. Oder lieber gleich lieber Uber fährt.

  • Oder wie der FDP-Wähler, der sonst immer auf Eigenverantwortung pocht, aber mit massiver Empörung reagiert, wenn jemand es wagt, an SEINE Eigenverantwortung beim Fleischessen, Fliegen oder Fahren zu appellieren. Fleisch, Fliegen und Fahren sind dann nämlich von der Eigenverantwortung auf wunderbare Weise ausgenommen. Das ist dann ein amputierter Freiheitsbegriff, der mit „qualitativer Freiheit“, wie sie Claus Dierksmeier geprägt hat, nicht mehr viel gemein hat.


Kognitive Dissonanzen erlauben uns, unseren Alltag ohne Gewissens­bisse fortzusetzen. Es ist daher kein Wunder, wenn die Deutschen sich selbst für sehr umweltbewusst halten, aber das eigene Tun meist beim Mülltrennen endet – und wir trotzdem überzeugt sind, am Elend der Welt seien alle anderen schuld (vor allem die Amerikaner und die Chinesen!), nur nicht wir selbst.


Die Berliner Sängerin und Songwriterin Kleingeldprinzessin hat das in ihrem Titel Immer die Anderen... auf den Punkt gebracht:


„Sie zerstören die Umwelt, und verstopfen die Autobahn, /verursachen zu viel Müll und unterstützen den Rinderwahn / Sie haben ein ungerechtes Weltwirtschaftssystem, / sind egoistisch und skandalgeil, stinkend, faul und bequem. / Immer die Anderen (immer die Amis), wie könnt es anders sein? / Immer die Anderen! Da schließ ich Sie und mich, liebe Hörer, selbstverständlich nicht ein.“




In einem Fernsehinterview wurde einmal eine Politikerin gefragt:


“Gretchenfrage zum Schluss an Sie: Was tun Sie privat? Trennen Sie Ihren Hausmüll, benutzen Sie privat Bus und Bahn, stellen Sie beim Zähneputzen das Wasser ab?”


Die Politikerin antwortete, sie trenne natürlich ihren Müll.


Das war 1995, die Politikerin hieß Angela Merkel, und sie war damals Umweltministerin.

Was kann für einen realitätsgerechten Klimaschutz egaler sein als die Frage, ob Angela Merkel beim Zähneputzen das Wasser abstellt?


Ökomoralisch gutes Verhalten ist nichts Schlechtes, ganz im Gegenteil. Es kann Sinn stiften, es kann sogar Spaß machen. Aber es ist keine politische Strategie.


Konservatismus des Alltagshandelns


Menschen haben Gewohnheiten. Der Status Quo erscheint normal, wie die natürliche Ordnung der Dinge, und braucht daher auch keine Legitimation.


Jede Veränderung wird dagegen hinterfragt, sie muss sich legitimieren. Die Menschen fragen sich: "Warum soll ich mich umgewöhnen? Ich habe schon genug zu tun."


Dieser Konservatismus des Alltagshandelns ist wichtig zu verstehen. Wir sind Gewohnheitstiere. Wir verändern uns nicht gern.


Die Menschen wollen nicht "mitgenommen" werden. Sie wollen in Ruhe gelassen werden.


Verlustaversion


Menschen sind kein rationaler homo oeconomicus. Sie haben kognitive Verzerrungen - für deren Erforschung der Nobelpreis für Ökonomie an Daniel Kahneman verliehen wurde.


So gesehen ist unser Verstand nicht die Regierung, sondern der Regierungssprecher: Unser Hirn muss rationalisieren, was andere Instinkte schon zuvor entschieden haben.


Eine solche kognitive Verzerrung ist die Verlustaversion. Menschen empfinden den Verlust von dem, was sie haben, deutlich höher als einen gleich hohen Gewinn. Wenn ich also hundert Euro verliere, wiegt das für mich schwerer, als wenn ich hundert Euro finde.


Dies wirkt umso gravierender in der Klimadiskussion. Denn hier geht es vor allem um künftige Verluste (und Gewinne) im Vergleich zu heutigen Verlusten. Die Zukunft aber interessiert mich eben nicht so sehr - die Gegenwart dagegen schon. Das nennt man Zukunftsdiskontierung: Die Zukunft wird "abdiskontiert", sie ist uns weniger wert. Wir leben eben im Hier und Heute.


Obendrein wirken die Klimaschäden stochastisch. Das heißt: Ich bin mir gar nicht sicher, ob es wirklich mein Haus ist, das von der nächsten Flutkatastrophe weggeschwemmt wird. es könnte auch das Dorf in weiter Entfernung sein. Die Gewinne aus meinem klimaschädlichen Verhalten habe ich sicher, aber die Verluste treffen mich vielleicht gar nicht.


“Wir müssen handeln” - Nur: Wer ist “Wir”?


Wir müssen handeln! Wenigstens darüber sind wir uns einig.


Nur: Wer ist dieses „wir“?

  • Sie?

  • Ich?

  • Olaf Scholz?

  • Die Politiker?

  • Die deutsche Wirtschaft?

  • Ganz Deutschland?

  • Ganz Europa?

  • Die Vereinten Nationen?

  • Oder doch nicht wir, sondern lieber die anderen (China, die USA,...)?


Wir, das sind wir alle. „Wir müssen handeln” ist globalgalaktisch und damit adressatenfrei. Wenn alle verantwortlich sind, dann ist niemand verantwortlich. Es herrscht eine totale Fragmentierung der Verantwortung, und an geeigneten Sündenböcken fehlt es wahrlich nicht. Wenn der andere nicht handelt, ja sogar noch schlimmer ist, ist dies eine bequeme Entschuldigung, selbst nicht zu handeln. Je mehr die Not drängt, desto größer klafft die Lücke zwischen dem, was wir alle wissen, dass getan werden muss, und dem, was tatsächlich getan wird.


In der Politikwissenschaft nennt man das die „Logik kollektiven Handelns“. Alle profitieren zwar von einem stabilen Klima und einer intakten Umwelt, auch wenn sich nur wenige für deren Schutz einsetzen. Weil jeder öffentliche Güter - wie eben zum Beispiel die Atmosphäre - einfach so nutzen kann, handeln Trittbrettfahrer individuell rational. Der Schutz öffentlicher Güter ist paradoxerweise umso schwerer, je mehr Menschen betroffen sind, weil diese individuell kaum merken, ob jemand zum Erhalt des Gutes beiträgt oder nicht.

Am Ende handelt jeder nach seinem eigenen Interesse, weil er nicht der einzige Dumme sein will. Am Ende führt die Summe individueller Nutzenmaximierung zur Übernutzung von Gemeingütern und schließlich zur Katastrophe.


Der amerikanische Mikrobiologe und Ökologe Garrett Hardin hat das einmal die „Tragik der Allmende“ genannt und mit dem Beispiel einer Viehweide beschrieben. Eine Weide, die von allen Viehhirten genutzt wird, muss schließlich am Ende durch Übernutzung zugrunde gehen, weil kein Hirte freiwillig als Einziger auf den Weidegrund verzichtet. Die Summe individueller Rationalität ergibt nicht kollektive Rationalität, sondern kollektiven Kollaps.



Das Gefangenen-Dilemma


Als Politikwissenschaftler bekommt man diesen Konflikt schon im ersten Semester eingebläut, und zwar in Gestalt des klassischen Gefangenendilemmas, das erstmals in den 1950ern von Beratern der berüchtigten RAND Corporation für die US-Verteidigungspolitik im Kalten Krieg erdacht wurde.


Dieses Szenario geht so: Die Polizei fasst zwei Bankräuber, hat jedoch keine Beweise für die Tat. Deshalb verhört sie beide Gefangene einzeln, damit sie sich nicht absprechen können. Streiten beide die Tat ab und halten still, bekommen sie nur eine geringe Strafe von einem Jahr wegen illegalen Waffenbesitzes. Gestehen beide, drohen ihnen jeweils fünf Jahre Haft. Legt aber nur einer ein Geständnis ab und belastet den anderen, geht er als Kronzeuge straffrei aus, während der nicht geständige Täter zehn Jahre hinter Gittern landet.


Das Gefangenen-Dilemma

Eine Tabelle, die das sogenannte Gefangenen-Dilemma erklärt

Das optimale Ergebnis wäre, wenn beide kooperieren und schweigen. Dann kommen sie mit jeweils nur einem Jahr Haft davon. Das Dilemma: Sie können sich nicht absprechen. Selbst wenn sie vorher einen Eid geschworen haben, sich nicht gegenseitig zu verraten, können sie nicht sicher wissen, ob sich der Andere nicht doch zu einem Geständnis hinreißen lässt, um der Strafe zu entgehen. Das Ergebnis hängt also nicht nur vom eigenen Handeln ab, sondern vor allem vom Verhalten des Anderen.


Was hat das nun mit der amerikanischen Verteidigungspolitik zu tun? Im Kalten Krieg standen sich der Westen unter Führung der USA und der sowjetische Ostblock feindlich gegenüber. Das optimale Handeln wäre, wenn beide Supermächte abrüsten oder zumindest keine kriegerischen Akte vom Zaun brechen. Da sie aber den Verdacht nie ausschließen können, dass der Andere insgeheim feindlich handelt, müssen sie selbst aufrüsten und zuschlagen, bevor es der Andere tut. Selbst wenn beide Bündnisse einen Vertrag zur Rüstungskontrolle abschließen, ist es für sie doch immer besser, heimlich aufzurüsten, um im Kriegsfall überlegen zu sein. Wenn sich keiner an den Vertrag hält, ist das zwar für alle am schlechtesten, aus Sicht der Einzelnen aber trotzdem klüger.


Wer einmal den Film Thirteen Days über die Kubakrise 1962 gesehen hat, der bekommt eine leise Ahnung davon, wie haarscharf die Welt an einem nuklearen Krieg vorbeigeschrammt ist. Die USA deckten damals auf, dass die Sowjetunion mitten dabei war, Atomraketen auf Kuba zu stationieren. Nukleare Sprengköpfe in ihrem Hinterhof konnten die Amerikaner keinesfalls dulden. Die Sowjets wiederum wollten die strategische Überlegenheit, so nah ans feindliche Territorium vorgerückt zu sein, nicht aufgeben. Um ein Haar hätte individuelle Rationalität zu einem kollektiven Desaster geführt. Nur das diplomatische Geschick der Regierung unter John F. Kennedy konnte verhindern, dass der Konflikt eskalierte.


Aus heutiger Sicht kaum vorstellbar: Die USA und die Sowjetunion besaßen damals keine Verbindung, um im Ernstfall miteinander kommunizieren zu können – wie die Bankräuber in der Zelle, die getrennt verhört werden. Verhandlungen liefen über die Botschafter und über Fernschreiber, wo Nachrichten verschlüsselt, weitergegeben, entschlüsselt, weitergegeben, nochmals verschlüsselt, weitergegeben, entschlüsselt und übersetzt wurden, sodass es schon mal einen Tag oder länger dauern konnte, bis eine Nachricht ankam – mit viel Platz für Missverständnisse und Irrtümer.


Erst nach der Kubakrise installierte man das legendäre Rote Telefon im Weißen Haus: eine direkte Verbindung zwischen Moskau und Washington, mit der man sofort, direkt und jederzeit über eine sichere Leitung kommunizieren konnte. (In Wahrheit war das Rote Telefon allerdings gar kein Telefon, sondern ein Fernschreiber, also so etwas wie eine an ein Überseekabel angeschlossene Schreibmaschine für Telegramme.)


Das Gefangenendilemma erklärt auch, warum die internationalen Klimaverhandlungen seit dreißig Jahren auf der Stelle treten. Das Gefangenendilemma im Klimaschutz kann man nur lösen, wenn sich alle – oder zumindest möglichst viele – Staaten glaubhaft verpflichten, ihren nationalen Treibhausgasausstoß zu senken. Doch das ist gar nicht mal so einfach.

Jemand nannte das einmal „Diplomaten-Mikado“: Wer sich zuerst bewegt, verliert.



Die Allmende bewirtschaften


Muss die Allmende an der Logik kollektiven Handelns zerbrechen? Nein! Es gibt Auswege aus dem Dilemma.


Die Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom erhielt den Nobelpreis dafür, dass sie empirische Beweise aus der ganzen Welt vorlegte, dass Menschen gemeinsame Regeln für die Bewirtschaftung von Gemeinschaftsgütern aufstellen können und somit das Tragödie der Allmende vermeiden können.


Das bekannteste Beispiel ist das Ozonloch. In den 1980er Jahren war wissenschaftlich klar, dass FCKW-Emissionen die Ozonschicht schädigen und unter anderem Hautkrebs verursachen. Im Montreal-Protokoll entschied die UN dann über ein weltweites Verbot von FCKW. Und es funktionierte: Heute schließt sich die Ozonschicht wieder, die Gefahr wurde erfolgreich bekämpft.


Die Lösung in den 1980er Jahren lautete nicht: Verbraucher sollten aus Eigenverantwortung oder Ökomoral kältemittelfreie Kühlschränke kaufen. Sondern vielmehr: FCKW wurden schlicht verboten. Und das war der einzige Weg, die drohende Gefahr unter Kontrolle zu bekommen. Eine effektive Regel zum Schutz des globalen Gemeinguts Atmosphäre.


Oder nehmen wir das Fliegen. Wenn Sie heute innerhalb der EU fliegen, belastet das unter dem Strich das Klima? Nein. Warum nicht? Das liegt am Europäischen Emissionshandel, in den Energieerzeugung, Industrie und Luftverkehr einbezogen sind. Für diese drei Sektoren gibt es eine gemeinsame Obergrenze an Emissionen, die nicht überschritten werden darf. Unterhalb dieser Grenze werden die Emissionszertifikate gehandelt. Fliegen Sie weniger, werden die Zertifikate billiger, Kohlestrom wird damit preiswerter - an der Gesamtmenge der Emissionen ändert sich nichts, denn die wird durch die Obergrenze gedeckelt. Innerhalb der EU gilt also: Ob Sie weniger fliegen, macht unter dem Strich für das Klima keinen Unterschied.


Wer unter euch die Thematik gut kennt, wird nun zu Recht einwenden, dass ich damit nicht ganz Recht habe. Denn der Emissions-Deckel ist zu lasch, und die Nicht-CO2-Emissionen sind nicht vollständig einbezogen. Das ist aber ebenfalls kein Frage der Ökomoral des Einzelnen, sondern des politischen Willens.


Ich erinnere mich an meine Zeit als Anti-Atom-Aktivist. Wir prangerten in den 2000er Jahren die Energieverschwendung durch Standby-Schaltungen an, die alleine in Deutschland jedes Jahr so viel Strom verbrauchten wie 1-2 Atomkraftwerke produzierten. Wir forderten die Leute auf: Seid nicht so faul, sondern geht zum Fernseher und schaltet ihn richtig aus, anstatt per Fernbedienung! Es hat alles nichts genützt. Auch bei mir selbst nicht - als ich noch einen Fernseher besaß, war ich dann am Ende trotzdem oft zu bequem, um die letzten zwei Meter zum Fernseher zu gehen.


Die Lösung kam erst per Gesetz: Die EU-Ökodesign-Richtlinie 2009 begrenzte den Stromverbrauch durch Standby auf ein Minimum. Statt zwei Atomkraftwerken braucht man jetzt kaum noch Strom für Standby. Ganz ohne Ökomoral.


Wir brauchen gemeinsame Regeln für die Allmende, die vom Einzelnen abstrahieren - anstatt die individuelle Freiheit zu moralisieren, egal ob beim Fliegen, Fahren oder Fleischessen.



Vom Handeln zum Handeln

Der Weg führt nicht vom Wissen zum Handeln, sondern vom Handeln zum Handeln.

Das klingt tautologisch, aber ist es nicht. Was meine ich damit?


Auch ein barmherziger Samariter kann nur dann barmherzig sein, wenn es ihm die äußeren Umstände erlauben. Anstatt die Menschen durch staatliche Zwangsbarmherzigkeit zum Handeln zu bewegen, brauchen sie äußere Umstände, die es ihnen ermöglichen, selbst barmherzig zu werden. Sie brauchen bessere Gelegenheitsstrukturen: Regeln für die Allmende.


Genau daran arbeiten auch die UN-Klimakonferenzen. Sie sollen das strukturelle Gefangenen-Dilemma der globalen Klimapolitik lösen helfen. Bei aller Kritik, auch von mir: Sie sind das einzige wirklich globale Forum, das wir haben. Wenn ein globales Problem eine globale Lösung braucht, dann brauchen wir auch die UN-Klimakonferenzen. Sie sind das rote Telefon der Weltgemeinschaft.


Die Logik kollektiven Handelns löst man aber auch anders: indem man selbst vorangeht. Wer nicht nur verhandelt, sondern gleichzeitig für alle sichtbar handelt, der sendet das glaubwürdige Signal aus: Wir leisten unseren Beitrag. Das macht es anderen einfacher, dies ebenfalls zu tun.

Die deutsche Energiewende ist das beste Beispiel. China ist Deutschland gefolgt und krempelt nun die Weltmärkte für erneuerbare Energien um. Das macht es allen Nationen leichter, selbst mehr für Klimaschutz zu tun.

Auch ohne UN-Beschluss können wir erneuerbare Energien ausbauen und die Kohle beenden. Mit innovativen Unternehmen wie Enpal und mit bewährten Politikinstrumenten wie Erneuerbare-Energien-Gesetz und CO2-Bepreisung steht alles zur Verfügung, um Klimaschutz voranzubringen.


Statt global aufschieben, um national nicht handeln zu müssen, ist ein neues Credo gefragt:


Global verhandeln. National handeln.


Mehr


Stay tuned: Bald ergänze ich diesen Artikel um:

  • Wie Dänemark eine CO2-Steuer für die Landwirtschaft einführte, ohne Proteste auszulösen

  • Warum wir wirre Allianzen brauchen und warum nur Präsident Nixon nach China gehen konnte

  • Warum es mehr "jute Politik" braucht als Jutebeutel



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