Bei den Jamaika-Verhandlungen 2017 haben die Parteien alles falsch gemacht, was sie falsch machen konnten. Das führte zu deren spektakulärem Scheitern. Was man daraus lernen kann, zeigt unser Autor Wolfgang Gründinger – und gibt fünf Tipps, damit die nächste Koalitionsverhandlung gelingt.
Wer uns nach der Bundestagswahl 2021 regieren wird, ist so unklar wie nie. Erstmals müssen sich drei Parteien auf eine Mehrheit einigen, und welche es sein werden, darüber kann man heute nur spekulieren. Die Vielfalt der Optionen – ob „Jamaika“, „Ampel“, „Deutschland“ oder „R2G“ – ist auch die Qual der Wahl: Wenn jede Partei das für sich beste Ergebnis rausholen wird, droht uns die längste und zähste Regierungsbildung der bundesrepublikanischen Geschichte.
Aus dem spektakulären Scheitern der Jamaika-Gespräche nach der Bundestagswahl 2017 sollte die Politik daher erst recht lernen. Sonst würden die ohnehin mühseligen Koalitionsverhandlungen noch schwieriger, das Risiko des Scheiterns wäre noch höher, und das Ergebnis für alle unbefriedigender.
Warum die Jamaika-Koalition 2017 scheiterte
Aus Sicht der Verhandlungsführung lief damals alles schief, was schieflaufen konnte. Politiker:innen gelten bisweilen als Verhandlungs-Profis, aber bei den Jamaika-Sondierungen begingen sie gleich eine ganze Reihe verheerender Anfängerfehler:
fast stündliche öffentliche Verlautbarungen über das unfaire und unsachliche Gebaren der gegnerischen Parteien, gegen die man nun erst recht mit aller Härte die eigene Position durchsetzen müsse;
minütliche Leaks aus den internen Gesprächen, sodass man nichts mehr ungeschützt sagen konnte, ohne dass es an die Presse geleakt wird und drei Minuten später auf Twitter steht;
kaum jemals der erklärte Wille, gemeinsam zu einer Lösung zu finden;
Verhandlungen bis in die Nacht, damit jede Partei sich als die „härteste“ präsentieren konnte: Wer am längsten verhandelt, kann später behaupten, sich „sogar bis nachts um drei“ für seine Wähler:innen stark gemacht zu haben;
eine Location im Zentrum Berlins, die von der Hauptstadtpresse rund um die Uhr umlagert war und daher all das wahrscheinlicher machte.
Hinter dieser Art von Verhandlungsführung steckt die Idee, eine Verhandlung sei ein „Kampf der Gladiatoren“, bei dem der Härteste gewinnt – und dass man nur gewinnen kann, wenn der andere verliert. Pausenlos beobachtet von Presse und Parteibasis, wird die Verhandlung zu einem Schauspiel für die eigenen Wähler:innen, in dem jeder versuchen muss, sich als möglichst hart zu präsentieren. Man kann sich kaum noch offen äußern, weil jedes vorsichtige Herantasten an das Gegenüber sofort öffentlich zerfleischt wird.
Unter Druck, Stress und Misstrauen verhandelt man so bis tief in die Nacht – so lange und so zermürbend, bis Schlafmangel und emotionale Überforderung entweder ein suboptimales Ergebnis hervorbringen oder zum Abbruch der Verhandlung führen. Genau dazu kam es 2017, als Christian Lindner mitten in der Nacht das Handtuch warf und scheinbar urplötzlich die Koalition scheitern ließ.
Was Parteien von Harvard und FBI lernen können
Dabei zeigt das moderne Verhandlungsmanagement, dass es auch anders ginge. Die Vorstellung einer Verhandlung als Kampf der Gladiatoren ist spätestens seit 1981 überholt. Damals präsentierten die US-Rechtswissenschaftler Roger Fisher und William Ury von der Harvard University das sogenannte „Harvard-Konzept“.
Das Konzept verbindet bewusst den harten und den weichen Verhandlungsstil. Hart zu verhandeln, heißt, seine Ziele durchzusetzen. Weich zu verhandeln strebt dagegen an, die persönliche Beziehung zum Gegenüber zu erhalten, damit man sich weiterhin in die Augen sehen kann.
Das Harvard-Konzept sieht die Verhandlung als gemeinsame Entdeckungsreise zu einer gemeinsamen Lösung. Die Verhandlung ist damit kein Nullsummenspiel mehr, bei der man nur gewinnen kann, wenn die Gegenseite verliert. Es lotet Win-Win-Optionen aus und versucht, objektive Kriterien zu finden, auf die sich alle einigen können. Es trennt Person und Sache: Man ist „weich“, also positiv-freundlich zum Verhandlungspartner, aber bleibt hart bei seinen Forderungen. Und: Es pocht nicht auf Positionen – also „was“ das Gegenüber will – sondern erforscht die dahinter liegenden Motive und Interessen: also „warum“ das Gegenüber eine Forderung stellt.
Das FBI entwickelte das Harvard-Konzept weiter und betont die Emotionen in einer Verhandlung. Man stelle sich sein Gegenüber vor wie einen Geiselnehmer: Der Geiselnehmer ist unter enormen Druck (umstellt von Scharfschützen) und stellt unrealistische Forderungen („Eine Million Dollar und ein Fluchtauto!“). Härte und Druck machen eine emotionale Kurzschlussreaktion wahrscheinlich – und setzen das Leben der Geisel aufs Spiel.
Positive Kommunikation ist daher der vielleicht wichtigste Grundsatz des FBI. Man muss versuchen, sich in die Gegenseite einzufühlen, Vertrauen aufzubauen, und die emotionalen Barrieren zu erkennen, die eine sachliche Lösung verhindern. Erst dann, wenn das Gegenüber emotional aufgetaut ist, kann man zu rationaler Verhandlung übergehen.
Tipps für die nächsten Koalitionsverhandlungen
Für die nächsten Koalitionsverhandlungen sollten die Parteien von Harvard und FBI lernen, und die Fehler aus 2017 nicht wiederholen. Fünf Empfehlungen:
Gemeinsamer Wille zur Lösung: Vor Verhandlungsbeginn treten alle gemeinsam an die Presse und bekunden ihren Willen zu einer gemeinsamen Lösung. Nach Ende der Verhandlung treten alle ebenso gemeinsam an die Presse, bedanken sich für die faire Verhandlung und das faire und bestmögliche Ergebnis, oder aber (bei einem Scheitern) erklären gemeinsam, dass man trotz fairer Verhandlung leider kein Ergebnis finden konnte.
Vertrauen aufbauen: Vor Verhandlungsbeginn geben alle ihr Handy ab. Das verhindert, dass jede Äußerung sofort öffentlich wird. Erste Tagesordnungspunkte: ein langer Spaziergang und ein langes gemeinsames Abendessen. Am nächsten Morgen geht dann die Verhandlung los.
Pausen: Keine Verhandlungen bis tief in die Nacht. Stattdessen genügend Pausen, genügend Schlaf, und die Möglichkeit zu informellen Gesprächen ohne Protokoll.
Kein Druck: Die Parteien sollten keine laufenden Zwischenstände verkünden. Vielmehr sollte es wie bei der Papstwahl sein: Das Ergebnis wird erst erklärt, wenn weißer Rauch aufsteigt. Bis dahin sind die Parteien abgeschottet unter sich.
Richtige Location: Der Verhandlungsort sollte all das befördern – also am besten ein Schloss weitab von Berlin, ohne Internetempfang, dafür mit großem Park.
Wenn es hart auf hart geht, dann bleibt nur noch ein letzter Tipp: Man stelle sich die andere Partei vor wie einen Geiselnehmer – und dass man keinesfalls das Leben der Geisel riskieren darf.
Mehr zum Thema Verhandlungsführung in Beruf und Alltag findest du in meinem Buch Zehn Jahre Klüger.
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