Die deutsche analoge Bürokratie treibt nicht nur so manchen zur Verzweiflung. Sondern sie sabotiert die Zukunftsfähigkeit unseres Landes - und das Vertrauen in unseren Staat. Die vierte Covid-Welle ist dabei nur Symptom eines strukturellen organisatorischen Versagens. Was tun?
Als im späten Herbst 2021 die vierte Covid-Welle ausbrach, stand der Staat mit leeren Händen da. Wieder einmal wollte man nicht kommen sehen, von dem alle wussten, dass es kommen würde. Im Wahlkampfsommer schien die Pandemie plötzlich vorbei.
Wieder einmal aber bekamen wir bitter zu spüren, wie sehr der Staat inzwischen auch jenseits des Wahlkampfs organisatorisch versagt. Nicht nur bei der Pandemie. Sondern strukturell.
Denn: Die Probleme der deutschen Bürokratie aber gären schon lange.
Ein Lied davon singen kann Marco Scheel. Im Februar 2021 ging sein Wutausbruch über die behördliche Formularschlacht viral. Dabei will der norddeutsche Unternehmer nur alte Ställe modernisieren, um Schafswolle für sein nachhaltiges Textilienlabel zu produzieren. Aussichtslos.
„Das Ding ist: Ich muss hier eine Umnutzung machen, denn das ist hier landwirtschaftlich genutzt. Die Umnutzung findet auf dem Formular des Bauantrags statt. Ein Bauantrag im Außenbereich wird aber erst einmal abgelehnt. Jetzt soll das Amt den Flächennutzungsplan ändern, dann soll die Gemeinde einen Bebauungsplan machen, und dann kann ich einen Bauantrag stellen.“
Alle Jahre wieder misst der E-Government-Monitor der Initiative D21, wie es um die Digitalisierung des deutschen Staates steht. Die Schlagzeilen der letzten sieben Jahre lauteten im unverfälschten Original:
2015: „E-Government kommt nicht voran in Deutschland“
2016: „E-Government kommt nicht voran“
2017: „Öffentliche Verwaltung kommt nur schlecht voran“
2018: „Potenziale bleiben ungenutzt“
2019: „Deutschland weiterhin mit Aufholbedarf“
2020: „Keine Digitalisierung durch Corona“
2021: „Behörden vermasseln die Digitalisierung“
Kennen Sie noch den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ mit Bill Murray? In dem Film steckt der Protagonist in einer Zeitschleife fest. Wenn er morgens aufwacht, wiederholt sich derselbe Tag immer wieder aufs Neue.
So geht es mir, wenn ich an die Digitalisierung in Deutschland denke. Wir kommen nicht vom Fleck.
Deutscher Digitaler Rückstand (DDR)
Viele sagen, jetzt sind wir endlich aufgewacht. Die Behörden hätten in der Covid-19-Krise verstanden, dass Digitalisierung kommen muss. Die Probleme waren schließlich offenkundig:
Die Gesundheitsämter erhielten die Meldungen der Infektionszahlen per Fax.
Für die Corona-Warn-App machte man Millionen locker, nur um am Ende für viel Geld eine weitere App des privaten Startups Luca zu kaufen, deren IT-Sicherheit eine Katastrophe war.
Das Schulsystem brach in weiten Teilen zusammen. Online-Unterricht gab es nur für 6 Prozent der Schüler, und die Länder riefen nicht einmal die Bundesmittel für den digitalen Bildungspakt ab, weil das Antragswesen staatlicher Mittel selbst für die staatlichen Behörden zu verworren war.
Eine typische Geschichte war auf Twitter nachzulesen: Dort berichtete jemand, sie habe nach einem positiven Covid-19-Schnelltest das Gesundheitsamt informiert. Dort sagte man ihr: Sie möge bitte mit der Bahn (!) zum Arzt fahren und einen PCR-Test machen, denn Schnelltests seien nicht so ernst zu nehmen. Später sendete sie eine Liste mit engen Kontakten per Mail an das Gesundheitsamt, um bei der Nachverfolgung zu unterstützen. Das Amt aber rief sie an und bat, die Liste nochmal per Post (!) zu schicken, weil man die Datei nicht öffnen könne. Zugleich musste ihr Freund, der hohes Fieber hatte, seinen PCR-Test selbst bezahlen, weil es laut Arzt keinen Grund für einen Test gab.
Zwei Jahre nach Beginn der Pandemie war fast alles wie an deren Beginn.
Wer soll da den Staat noch ernst nehmen?
Wenn wir den Anspruch haben, gut zu funktionieren, wenn wir modern sein wollen, dann dürfen wir nicht erst auf globale Krisen warten, um uns zu rühren. Ganz unabhängig von der Covid-19-Krise merken wir, dass die Abläufe in den Verwaltungen online selten funktionieren: unzugänglich, kompliziert, oder gar nicht vorhanden. Jeder, ob er nun schulpflichtige Kinder hat oder den aktuellen Stand der Covid-19-Auflagen in Erfahrung bringen will, hat das längst bemerkt.
Woran hakt es?
Der Public Sector ist nicht technologieaffin. Die digitale Kompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist äußerst heterogen verteilt.
Die staatliche Verwaltung ist zudem nach dem Ressortprinzip organisiert, was sie nicht gerade flexibler oder kohärenter macht. Da geht es nicht um den Willen zu einer gemeinsamen Mission, wo man alles daransetzt, die Mission zum Erfolg zu führen. Sondern im Mittelpunkt steht, die Aufgaben und Mittel zu verteilen, wodurch ein Konglomerat an Zuständigkeiten entsteht und jeder seinen kleinen Teil verwaltet.
Allein das Diagramm mit den Zuständigkeiten für Cybersicherheit ist in der Szene legendär: Wer das auswendig lernt, ist entweder ein Genie oder wird verrückt. Und bei so manch anderen Themen ist es leider ganz ähnlich, und so braucht man sich nicht wundern, wenn die großen Themen von niemandem so richtig angepackt werden.
Prozessorientiertes Verwaltungshandeln
Das größte Hemmnis ist die kulturelle Maxime, nach der das gesamte Handeln der deutschen Verwaltung organisatorisch und psychologisch ausgerichtet ist. Diese Denkmaxime lautet prozessorientiertes Verwaltungshandeln.
Dies zielt darauf ab, das Risiko des Scheiterns zu minimieren, führt aber paradoxerweise dazu, das Risiko des Scheiterns zu erhöhen. Denn solange die Prozesse eingehalten werden, sind die Ergebnisse zweitrangig. Alle Beteiligten sichern sich dabei so ab, dass sie bei einem Scheitern nicht als Schuldige dastehen, beispielsweise durch lange Mitzeichnungsverfahren. Jeder schreibt dann auf, was das neue Produkt alles können muss, jeder muss mit allem einverstanden sein. Am Ende wird die Auftragsvergabe so zäh und mühsam, dass das Produkt längst veraltet oder an den Bedürfnissen vorbei entwickelt ist. Verantwortlich ist trotzdem niemand, denn die Verantwortung ist so stark fragmentiert, dass keiner mehr verantwortlich ist.
Selbst die Bestellung eines Caterings für eine Veranstaltung mit 20 Personen kann so schon einmal fünf hochbezahlte Angestellte involvieren und sich über Wochen hinziehen. Bei Flughäfen oder anderen Großprojekten dauert es dann eben noch einmal etwas länger. Das Projekt ist dann häufig bei der Fertigstellung bereits veraltet und kostete mehr als gedacht.
Der Gesetzgeber will dem Steuerzahler damit das wertvolle Steuergeld sparen. Aber in Wahrheit passiert das Gegenteil.
Dieser „Deutsche Digitale Rückstand“ ist nicht einfach nur unbequem. Sondern er macht Millionen Menschen das Leben schwer und untergräbt am Ende das Vertrauen in den deutschen Staat. Wenn alle wie selbstverständlich von ihrer demokratischen Regierung als „failed state“ reden – in Berlin ein längst gängiger Terminus für das Unvermögen der Hauptstadtverwaltung –, dann wird es eng.
Deutsche Digitale Aufholjagd
Wir brauchen eine Deutsche Digitale Aufholjagd. Der Staat muss funktionieren und handlungsfähig sein. Das muss der Bürger, das muss die Bürgerin spüren und erleben – anstatt das man sich bereits zufriedengibt, wenn man aus der rosaroten Brille der Innenlogik der Verwaltung heraus annimmt, dass sich die Dinge ja längst zum Besseren verändert hätten.
Dabei geht es um weit mehr als nur um eine digitale Verwaltung. Wir müssen zugleich die Grundlagen dafür schaffen, dass Durchbruchtechnologien und Sprunginnovationen auch hierzulande entstehen und blühen können: Innovationen wie GPS und Internet, wie neue Batterien und Elektromotor, wie Hyperloop und Laborfleisch.
Manches wird sogar in deutschen Universitäten, Instituten und Unternehmen erfunden – aber die Geschäfte machen andere, weil wir es nicht hinbekommen, daraus funktionierende Geschäftsmodelle zu bauen und die „kreative Zerstörung“ (um mit dem großen Ökonomen Josef Schumpeter zu sprechen) des Status Quo schnell und verbissen genug zu organisieren. MP3 – also das Musikdateiformat, das dem iPod und damit dem Comeback von Apple den Weg bahnte – ist das beste Beispiel: in Deutschland entwickelt, woanders zum Nutzen gebracht.
Wir müssen es schaffen, genügend junge Menschen in den MINT-Fächern auszubilden (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik). Und die Spezialisten und Fachleute müssen wir in Deutschland halten – und erreichen, dass sie auch für deutsche Unternehmen arbeiten, und eben nicht nur für die Niederlassungen von Facebook, Google oder Amazon. Denn die großen Tech-Konzerne geben den besten Leuten heute wesentlich mehr Freiheit, mehr Geld, und mehr Prestige als es viele deutsche Wettbewerber tun, und erst recht mehr von all dem als sie bei der öffentlichen Hand bekommen würden. Den „War For Talents“ haben wir genau mit diesen Firmen.
In den USA hat gerade Amazon den General und Ex-NSA-Chef Keith Alexander zu sich geholt. Eigentlich müsste es genau andersrum sein: dass die besten Leute von der Wirtschaft zum Staat gehen. Es mag utopisch klingen, aber genau das müssen wir schaffen.
Dazu müssen wir die Institutionen selbst auf ein agiles Mindset einsteuern, aber zugleich neue Räume zum Ausprobieren schaffen: also Orte, wo man Dinge einmal anders machen kann, anders machen darf, als sie sind. Nicht weil das zwangsläufig immer und überall besser ist, sondern weil es zum Sinn und Zweck passt: nämlich außerhalb der tradierten Prozesse neue Dinge testen und Scheitern bewusst erlauben.
Die neue Bundesagentur für Sprunginnovation (SprinD) setzt etwa darauf, mit Wettbewerben die besten Projekte auszuwählen und diese dann zu fördern. Mit diesem Ansatz erfanden die USA das Internet, das autonome Fahren, und die jüngsten Fortschritte in der Robotik.
Das wollte Deutschland auch – und gründete SprinD. Doch deren Chef Rafael Laguna de la Vera verzweifelt am prozessorientierten Verwaltungshandeln: „Wenn wir mit unserem Auswahlprozess fertig sind, dann haben wir die Projekte ein Jahr gegrillt und würden ihnen gerne das Geld geben. Aber dazu brauchen wir eigentlich erst mal eine öffentliche Ausschreibung. Das geht aber nicht immer, denn manchmal bekommen wir geheime Projekte vorgeschlagen, die wir wirklich nicht ans Rathaus hängen wollen. Wir gründen für unsere Projekte hundertprozentige Tochtergesellschaften. Aber wenn wir das tun, haben wir wieder das Besserstellungsverbot, müssen nach Tarifen des öffentlichen Dienstes bezahlen und können die Mitarbeiter nicht von Anfang an am Unternehmenserfolg beteiligen.“ Und so weiter und so fort.
Im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ hat die Zeitschleife irgendwann ein Ende, als der Protagonist Bill Murray sein Leben ändert und damit die Zeitschleife durchbrechen kann. Auf einmal wiederholt sich sein Leben nicht mehr jeden Tag, sondern es geht weiter.
Wir müssen auch in Deutschland etwas ändern. Denn wir können es besser als heute. Damit die Schlagzeile im nächsten Jahr nicht schon wieder heißt: „Es ist mal wieder sehr wenig passiert“, sondern: „Deutschland ist führend in Digitalisierung.“
Update am 22. November 2021
Zuerst erschienen in gekürzter Fassung in: Der Pragmaticus
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